Spiegelungen aus der Tiefe
Foto: Frank Küpper
Die Gegenwart ist bereits vergangen, in jenem Moment wo man sie zu erfassen versucht. So ist der Mensch in seiner Gesamtheit eine Entität, die durch die Zeit strömt. Seine Zukunft verändert sich auf Grundlage von Vergangenheit und Gegenwart. Damit verändert sich auch die Vergangenheit, da jede Realität durch die Linse eines Blickwinkels auf die Dinge entsteht. Dieser Blickwinkel verändert sich dann mit dem sich verändernden Menschen. Wenn auch auf unterschiedliche Weise, sind Zukunft wie auch Vergangenheit in Bewegung, weil der Mensch sich in seiner Bewegung durch die Zeit ändert. Der Spiegel hat etwas konzeptionell ernüchternd Ehrliches. Entlarvt das, was ist. Als treuer Begleiter des Moments, stellt er eine auf die Netzhaut gebrannte Illusion der Gegenwart dar.
Währenddessen folgen die besten der Künstler ihrer Intuition. Da der Künstler durch seine Intuition geleitet wird, knüpft er so eine Verbindung zum zarten Wesen des Zeitgeists. Eine Verbindung zum lebenden schlagenden Herz der Welt, die uns umgibt und durchdringt. So steht er immer in einer gewissen Distanz zur Menge. Lebt immer ein Stück im Exil, immer halb Partizipator, halb Betrachter seiner Umgebung. Lebt immer ein Stück im geistigen Äther, der uns umgibt und ist dann vielleicht in der Lage einen Funken dieses Weltengeists in einem Werk zu bannen, was sich dann als Kunst in der Welt manifestiert.
Ein Künstler schafft so neue Spiegelwelten. Spiegel des Individuums im Zeitgeist. Mit Blick auf viele Bereiche der Kunstgeschichte kann man den Eindruck gewinnen, als wäre die Entstehung zeitprägender Ideen eine Emergenz aus dem geballten Unterbewusstsein hin zu einer expliziten Theorie. Dieser Prozess mag sich über Generationen ziehen; Poeten und Künstler sind vor den Philosophen da. Die Philosophen vor Erfindern und Revolutionären. Diese wiederrum vor den Geschichtsschreibern, woraufhin man retroperspektiv einen Eindruck auf die Gesamtentwicklung gewinnen kann. Die Kunst kann die Schatten erahnen, die die Zukunft in die Gegenwart hineinwirft. So kann sie zum Spiegelbild eben jener sich andeutenden Zukunft innerhalb der Gegenwart werden.
Nikolai Bolik